Wenn man in Leipzig spät in der Nacht mit der Linie 11 aus Connewitz oder der Südvorstadt nach Hause fährt, ergeben sich mitunter seltsame Begegnungen. Manche sind skurril und verwirrend, andere sind lustig und erheiternd. Es gibt aber ab und an auch Begegnungen die einen nachdenken lassen.
Als ich heute auf dem Heimweg mit der Linie 11 war, stieg am Südplatz ein Mann Mitte 50 ein. Oder besser, er versuchte einzusteigen. Dabei hatte er einige Schwierigkeiten denn er versuchte etliche Plastiktüten und zwei dieser großen blauen IKEA Taschen vollgestopft mit Klamotten und anderem Krimskrams irgendwie in die Bahn zu bugsieren. Mit mäßigem Erfolg. Eine der blauen IKEA Taschen rutschte ihm von der Schulter und es folgte eine Kettenreaktion in deren Ergebnis sein Plastiktüten Sammelsurium zu einem großen Teil auf dem Boden verteilt vor und in der Bahn lag.
Er wirkte sichtlich verzweifelt und überfordert also half ich ihm wortlos zumindest alle Taschen in die Bahn zu bekommen. Als er sich und seine Taschen halbwegs sortiert hatte, belegte er damit einen kompletten Vierersitz. Habe mich gefragt wie er all die Sachen zur Haltestelle transportiert hat. Dann schaute ich wieder stumpf aus dem Fenster. Wie man das eben so macht in den Öffentlichen. Es starrt da ja jeder für sich immer irgendwohin. Stumpfe Welt.
Nun hatte er sich auch auf eine Ecke des mit Taschen vollgepackten Vierersitzes gesetzt und schnaufte.
„Hören sie, danke für ihre Hilfe.“
„Kein Problem.“ – sage ich.
Im Grunde ist die Sache ja damit gegessen. Jeder starrt wieder auf seinen Punkt. Oder aufs Smartphone. Oder stellt sich schlafend. So läuft das für gewöhnlich in den Öffentlichen.
„Wissen Sie, ich muss zu einem Freund wo ich übernachten kann. Deswegen die vielen Taschen.“
„Sie müssen mir nichts erklären. Aber wären da Koffer nicht praktischer gewesen?“ – anworte ich.
„Es ist so, ich kam heute von der Montage nach Hause und habe meine Frau mit einem anderen erwischt und nun musste ich schnell irgendwo hin.“
Ich bin etwas überfordert mit dieser Information. Eigentlich möchte ich ja nur nach Hause.
„Und wieso gehen sie da mit ihren Sachen und haben sie nicht raus geschmissen?“
Auf den nächsten Stationen bis zum Hauptbahnhof erfahre ich dann seine halbe Lebensgeschichte. Dass er die letzten 10 Jahre nur auf Montage arbeitet und selten zu Hause ist. Er würde seine Frau ja verstehen und er könne sie nicht raus schmeissen. Sowas kann passieren meint er. 27 Jahre sind sie verheiratet und jetzt habe sie einen Fehler gemacht. Einen Fehler in 27 Jahren. Wegen diesem einen Fehler wirft man doch nicht alles weg. Er geht jetzt zu einem Freund bis sich die Wogen nach dem Streit etwas geglättet hätten und dann will er in Ruhe mit ihr reden. Er liebt sie sagt er, und zwar wegen all der guten Dinge in all den Jahren. Und er hasst sie nicht wegen der einen schlechten Sache jetzt.
Hauptbahnhof. Ich muss umsteigen. Ich wünsche ihm alles Gute, er lächelt milde und bedankt sich noch einmal. Als die Bahn weiter fährt schaue ich ihm und seinem Wust an Taschen nach und denke mir: es gibt sie noch, die Liebe.
Linie 3. Ich steige ein und lehne den Kopf an die Scheibe. Eine seltsame Begegnung war das eben.
Hinter mir sitzen fünf junge Mädchen. Ich schätze mal so 16-17 Jahre alt. Sie unterhalten sich mit ihren schrillen Stimmen ziemlich lautstark. Weghören nicht möglich. Mithören dafür umso besser.
„Ey, weißt Du, früher hab‘ ich ja immer zu allem ja gesagt. Ich hab‘ da keinen Bock mehr drauf. Die sagen doch immer alle nur noch ja.“
„Seitdem wir das Fachabi machen wissen wir eben viel mehr. Ich war ja immer nur skaten früher. Das fehlt mir schon krass so als Hobby.“
„Ja aber jetzt machen wir das scheiß Fachabi und dann machen wir nen Job und verdienen voll viel Kohle!“
„Lea! Lea-Sophie! Ich glaube die Koffeintabletten wirken grad voll! Bin übel munter!“
Dieser Gesprächsfetzen mag belanglos klingen, aber – er bedeutet Hoffnung. Hoffnung für die Jugend. Ich meine, mir wurde hier von 14-Jährigen schon Crystal in der Bahn angeboten und ich glaube die hatten für sich als Ziel nicht einmal den Hauptschulabschluss. Und wenn ich zurückblicke und mir überlege was wir uns mit 17 so rein gezogen haben, dann sind Koffeintabletten im Vergleich dazu so harmlos wie TicTac´s. Sind sie ja auch. Koffeintabletten. Irgendwie ja schon niedlich.
Also ihr Fünf, wenn ihr das hier irgendwann mal lesen solltet: Macht eurer scheiss Fachabi und ich wünsche euch danach einen Job wo ihr einen Haufen scheiss Kohle verdient. Und Ja-Sager braucht keiner. Diese Gesellschaft braucht Menschen die auch mal gegen etwas sind. Nein sagen ist etwas großartiges.
Hoffnung und Liebe. Nachts um 2 Uhr in den Öffentlichen.
Auf Leipziger Art.
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